2. Fachtag Armut und Teilhabe am 3. Juli 2024
Am 3. Juli 2024 fand der 2. landesweite Fachtag "Armut und Teilhabe Baden-Württemberg" im Hospitalhof Stuttgart statt. Rund 180 Akteurinnen und Akteure aus Praxis, Politik und Interessenvertretungen von Armut betroffener Menschen versammelten sich.
Nachdem Dr. Stephanie Saleth (Leiterin der FaFo BW) den Fachtag eröffnet hatte, folgte ein Grußwort von Walter Böttiger, dem Leiter des für Armutsprävention zuständigen Fachreferats im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg, der den kurzfristig verhinderten Sozialminister Lucha MdL vertrat. Er betonte als Veranstalter die Bedeutung des Fachtags als Begegnungsort und Möglichkeit zum Dialog für Politik, Wissenschaft, Fachpraxis und insbesondere armutsbetroffenen Menschen.
Ein Statement aus Betroffenenperspektive zur Frage „Wo stehen wir in Baden-Württemberg?“ unterstrich, dass Armut zunehmend mehr Menschen in Baden-Württemberg betrifft, auch viele ältere Menschen. Angesichts steigender Miet- und Energiepreise müsse die Politik Maßnahmen ergreifen. Gefordert wurden u.a. mehr Treffpunkte, Cafés und ein besserer Zugang zu Bildung sowie eine stärkere politische Teilhabe. Man müsse mit der armutsbetroffenen Bevölkerung reden, nicht über sie. Auch die Kinderarmut müsse bekämpft und KiTa-Gebühren abgeschafft werden. Wichtig sei außerdem die kostenlose ÖPNV-Nutzung.
Es folgte eine Podiumsdiskussion mit Daniel Werthwein (Landkreistag Baden-Württemberg), Heiner Heizmann (Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V., beschäftigt beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V.), Roland Saurer (Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg) und Walter Böttiger. Herr Saurer begann mit einer historischen Einführung zur Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg und lobte die Fortschritte der Landesregierung in Sachen Armut und Teilhabe. Er hob die gute Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration hervor und betonte die Bedeutung des Fachtags als Plattform für Dialog und Austausch. Zudem wies er darauf hin, dass die Landesarmutskonferenz das Thema Armut mit dem Thema Menschenrechte durch die Gründung von Menschenrechtsbüros für Menschen mit Armutserfahrung verknüpft habe. Herr Werthwein verdeutlichte, dass die Kommunen das Gesicht des Sozialstaats vor Ort seien. Zur Kindergrundsicherung erklärte er, dass der massive Fachkräftemangel die Einführung in der breiten Fläche erschwere. Der parlamentarische Prozess habe jedoch Fortschritte gemacht und der Bund gehe auf die Kreise, Kommunen und deren Probleme ein. Auf die Frage nach dem Beitrag von bürgerschaftlichem Engagement und Quartiersentwicklung bei der Bekämpfung von Armut nannte Herr Werthwein das Schaffen von Verständnis, Begegnungsorten gegen Einsamkeit und barrierefreien Zugängen sowie das Wahrnehmen von Bedarfen als wichtige Maßnahmen. Angesprochen auf den Förderaufruf „Zentrale Fachstellen zur Wohnungssicherung“ des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration zur Verhinderung von Wohnungsverlusten, stellte Herr Heizmann klar, dass ein präventiver Ansatz immer sinnvoll sei. Gerade in diesem Bereich sei es wichtig, vor dem Wohnungsverlust anzusetzen. Insgesamt sei das Förderprogramm ein Beispiel dafür, wie man bereits gewonnene Erkenntnisse gut in die Praxis umsetzen könne. Abschließend gab Herr Heizmann drei Impulse im Kontext der sozial-ökologischen Transformation in die Runde, die als Reflexionsfragen formuliert waren: Erstens, wie gehen wir mit den steigenden Energiekosten um? Zweitens, wie gehen wir damit um, dass bei der Mobilität falsche Anreize gesetzt werden? Drittens, wie kommen wir weg von einer Gießkannenförderung hin zu einem ganzheitlichen Ansatz? Zum Abschluss unterstrich Herr Böttiger die Schwerpunktsetzungen des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg. Besonders bei Kindern und Jugendlichen sei die Armutsfolgenprävention wichtig, damit Kinder und Jugendliche ihre Potenziale nutzen können. Es sei entscheidend, dass Teilhabechancen nicht am Geld scheitern. Das Programm "Starke Kinder – chancenreich" mit dem Ansatz der Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut soll daher auch in Zukunft gut aufgestellt sein. Das Ministerium unterstütze von Anfang an die Einführung der Kindergrundsicherung. Mit der Vector Stiftung zusammen werde die Erprobung des Housing-First-Ansatzes für Menschen in verfestigter Wohnungslosigkeit gefördert, um diesen ein normales Mietverhältnis zu ermöglichen.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion konnten Fragen an die Beteiligten gestellt werden. Nachfolgend schilderte ein von Armut betroffener Mann seine Perspektive auf die Thematik und leitete zur Keynote über. Das Statement steht hier zum Download bereit.
Im Mittelpunkt des Vormittagsprogramms stand die Keynote von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse (Eberhard Karls Universität, Katholisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Theologische Ethik/Sozialethik) zum Thema „Wenn Armut untergeht – Gerechtigkeit in einer entrüsteten Republik“. Herr Prof. Dr. Möhring-Hesse sprach dabei über die Politik in einer entrüsteten Republik, die fehlende Repräsentation von Armutsbetroffenen sowie den Untergang von Armut im politischen Diskurs. Er betonte die Notwendigkeit, mehr „Arenen“ zu schaffen, an denen sich Menschen mit und ohne Armutserfahrung auf Augenhöhe beraten können. Armutsbekämpfung und -prävention solle politisch so verhandelt werden, dass statt gegenseitiger Entrüstung auf sachliche Weise Inhalte und kontroverse Argumente beraten, darüber das gemeinsame Wissen ausgeweitet und die politisch ausgehandelten Maßnahmen der Armutsbekämpfung und Armutsprävention geprüft und verbessert werden können. Ergebnisse des Vortrags stehen hier zum Download bereit.
In der Mittagspause gab es reichlich Zeit zur Vernetzung und Gelegenheit für die Teilnehmenden, die Ausstellung „Wind - Wasser - Wetterveränderung: eine Ausstellung mit Acrylbildern von Klient*innen der Wohnungslosenhilfe“ der Künstlerin Nadja Uzler, Mitarbeiterin der Caritas Ulm-Alb-Donau, zu betrachten. Des Weiteren stellte die Neue Arbeit gGmbH das Demokratie-Bike mit einem dazugehörigen Infostand aus. Unter dem Motto "Unterwegs für die Demokratie - Demokratie zum Mitmachen" fährt das Demokratie-Bike mit Utensilien für einen Straßeninfostand zu verschiedenen sozialen Brennpunkten in Stuttgart. Die Initiierenden wollen mit einfachen und niedrigschwelligen Methoden mit den Menschen vor Ort über Demokratiefragen ins Gespräch kommen. Vor dem Hospitalhof parkte der VW-Bus der Tafel Singen und lud die Teilnehmenden im Rahmen des Projekts "Rede-Zeit" ein, über Armut zu sprechen, insbesondere mit denjenigen, die von Armut betroffen sind. Beide Projekte werden unterstützt durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration aus Landesmitteln, die der Landtag von Baden-Württemberg beschlossen hat.
Gianluca Cervone läutete mit einem berührenden musikalischen Beitrag über seine Armutserfahrungen in Kindheit und Jugend das Nachmittagsprogramm ein. Kristina Faden-Kuhne, Marie-Sophie Jestadt und Jan Velimsky (alle FaFo BW) stellten innerhalb eines Fachforums die Ergebnisse der modularen Armutsberichterstattung Baden-Württemberg vor. Dabei konzentrierten sie sich auf die aktuellen Daten sowie die Themen „Armut und Wohnen“ sowie „Soziale Isolation und Einsamkeit armutsgefährdeter Menschen“. Abgerundet wurde das Fachforum mit einem Fachaustausch zu den Empfehlungen des 2. Berichts zur gesellschaftlichen Teilhabe zum Thema Wohnungssituation von Menschen mit Armutserfahrung unter Beteiligung von Dr. Michael Wolff (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg), Roland Saurer (Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg) sowie Simon Näckel (Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V., beschäftigt beim Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V.). Der entsprechende Bericht wird demnächst veröffentlicht.
Im interaktiven Teil des Fachtags hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, einen von vier Workshops oder die Thementische zu besuchen (siehe unten). Abschließend zog Walter Böttiger ein positives Resümee und dankte allen Mitwirkenden sowie allen anwesenden Personen, die durch ihre verschiedenen Perspektiven und Diskussionsbeiträge zum Gelingen des Fachtags beitrugen.
Workshop 1: Wirkungen von Armuts(folgen)prävention sichtbar machen
Erfahrungen aus den Präventionsnetzwerken gegen Kinderarmut und den Social Inclusion Labs for Kids and Youngsters
Esther Scheurle, Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), Sabine Wild, Der Paritätische Baden-Württemberg, sowie Anja Läpple und Robin Weiß, FaFo BW
Zu den Inhalten: Präsentation von Sabine Wild
Workshop 2: Aufsuchende politische Bildung mit Menschen mit Armutserfahrungen
Konzepte, Praxiserfahrungen und Austausch zu Perspektiven in Baden-Württemberg
Dr. Michael Wolff, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg
Die Dokumentation wurde an die Teilnehmenden des Workshops versandt.
Workshop 3: Demokratie unter Druck? Armut und politische Teilhabe
Ergebnisse des 3. Berichts zur gesellschaftlichen Teilhabe, Praxisimpulse und Austausch zu Handlungsempfehlungen
Rebecca Lo Bello, EFAS Evangelischer Fachverband für Arbeit und soziale Integration e.V. Fachverband der Diakonie Deutschland, sowie Kristina Faden-Kuhne, Marie-Sophie Jestadt und Jan Velimsky, FaFo BW
Zu den Inhalten
Workshop 4: Armut und Ernährung – Was läuft in der Praxis?
Konzepte und Praxiserfahrungen gegen materielle und soziale Ernährungsarmut bei Senioren und Seniorinnen
Andrej Hänel, Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, und Katrin Eitel, Landeszentrum für Ernährung Baden-Württemberg (LErn)
Zu den Inhalten: Seniorenernährung am LErn BW & Landwirtschaftsamt Enzkreis "Genuss im Alter"
Thementische (zu den Inhalten)
Politische Interessensvertretung durch armutsbetroffene Menschen und Fachpraxis – Wie gelingt der Schulterschluss? (Anne Jezorski, Uwe Aschenbrenner und Aki-Sotiris Kiokpasoglou, Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg)
Sozialökologische Transformation – Wie stellen wir die Teilhabe von Menschen mit geringem Einkommen sicher? (Heiner Heizmann, Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V.)
Gesundheitliche Ungleichheit – Welche Auswirkungen hat materielle Armut auf die Gesundheit und den Zugang zur Gesundheitsversorgung? (Kerstin Rall-Hanisch, Rabea Boos und Julia Moser, Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg)